"Wurden gezwungen, Menschen sterben zu lassen"

Schwere Vorwürfe gegen Schwedens Corona-Politik

Sonntag, 11.10.2020, 13:09

In Schweden häufen sich Berichte über fatale Entscheidungen in Pflegeheimen und Kliniken während der ersten Corona-Welle: Zahlreiche Senioren, die damals zu Tode kamen, hätten womöglich gerettet werden können. Was der umstrittene Kurs der schwedischen Regierung damit zu tun hat. Schwedens Sonderweg im Umgang mit dem Coronavirus sorgt immer wieder für Diskussionen - schließlich stellt das Land regelmäßig die Restriktionen infrage, die andere Regierungen ihrer Bevölkerung verschreiben. Wer hingegen mit Schweden spricht, stellt fest: Sie sind im Großen und Ganzen zufrieden mit dem Kurs ihrer Regierung.

Anders Wiklund/AP/TT NEWS AGENCY/dpa/GettyImages/fotomay/FOL - Schweden ist in der Corona-Krise einen anderen Weg gegangen als die meisten europäischen Länder.

Im Frühsommer drohte die Stimmung allerdings zu kippen, als Infektionszahlen und auch die Todesrate zeitweise deutlich höher lagen als in den Nachbarländern. Die erste Infektionswelle zwischen April und Juni traf Schweden besonders hart. Vor allem in den Pflegeheimen forderte die Pandemie überdurchschnittlich viele Opfer.

Wochenlang kaum Corona-Tote

Mit Besuchsverboten, Obergrenzen für Veranstaltungen und unermüdlichen Appellen an die Bevölkerung gelang es jedoch, die Zahl der täglichen Neuinfektionen über den Sommer deutlich zu senken. Seit August liegt die Zahl der mit Corona verstorbenen Personen in Schweden tagtäglich im niedrigen einstelligen Bereich. Immer wieder konnte das Land sogar vermelden, dass es keinen einzigen Corona-Toten gab. Und als sich die Zahlen normalisierten, ließen auch die Zweifel nach.

Dabei setzt Schweden bis heute in erster Linie auf freiwillige Maßnahmen. Flächendeckende Schulschließungen oder eine Maskenpflicht etwa gab es in Schweden bislang nicht. Nun, da in vielen Ländern Europas die sogenannte "Zweite Welle" der Pandemie durch die Bevölkerung wandert und auch in Schweden die Fallzahlen wieder steigen, kehrt allerdings auch bei so manchem Wikingernachfahren die Angst zurück.

Grausiger Verdacht: Zahlreiche Leben hätten womöglich gerettet werden können

Für Aufregung sorgen dabei vor allem Berichte über Vorgänge während der ersten Welle: Zahlreiche Senioren, die in Pflegeheimen zu Tode kamen, hätten womöglich gerettet werden können, heißt es. Das wäre nicht nur ein erschütternder Skandal. Dieser Skandal hätte auch einiges mit dem Corona-Kurs der Regierung zu tun.

gettyimages/ tobiasjo - Schweden ging in der Corona-Krise einen Sonderweg.

Denn zum einen setzt Schweden bekanntlich darauf, die Bevölkerung im Laufe der Zeit zu "durchseuchen" und das Virus so langfristig in Schach zu halten - anstatt auf Impfstoffe zu warten. Dies war nun gerade zu Beginn der Pandemie riskant. Denn damals konnte von einer Durchseuchung noch lange nicht die Rede sein: Eine unkontrollierte Ausbreitung hätte also leicht dazu führen können, dass auch die Zahl der Intensivpatienten enorm in die Höhe schnellen und die Kapazitäten der Krankenhäuser sprengen würde.

Nach offizieller Darstellung gab es stets genügend freie Betten

Peinlich genau wurde deshalb darauf geachtet, dass auf den Intensivstationen stets genügend freie Betten zur Verfügung standen. Solange dies gegeben war, konnten Behörden und Regierung beschwichtigen und Kritik am schwedischen Sonderweg zurückweisen. Gleichzeitig hatte man Vorgaben entwickelt, wem im Falle einer Überlastung des Gesundheitsapparates eine Intensivbehandlung zukommen sollte und wem nicht. Mit anderen Worten: Wer ein Bett bekommt und wer im Zweifel sterben muss. Schlechte Karten haben demnach insbesondere Menschen mit einem hohen "biologischen Alter" oder Vorerkrankungen.

Glücklicherweise ist dieser Fall bislang nicht eingetreten - selbst während der ersten Welle nicht: Nach offizieller Darstellung gab es stets genügend freie Betten. Anders als etwa in Italien, wo das Krankenhauspersonal zu Beginn der Corona-Krise tagtäglich solche ethischen Herausforderungen meistern musste.

"Wir wurden gezwungen, Menschen vor unseren Augen sterben zu lassen"

Berichten zufolge könnten die Vorgaben allerdings auch in Schweden manche Heime und Kliniken dazu veranlasst haben, nicht jedem Menschen die Hilfe zukommen zu lassen, die möglich gewesen wäre. "Wir wurden gezwungen, Menschen vor unseren Augen sterben zu lassen, obwohl wir wussten, dass sie bei Intensivbehandlung eine gute Überlebenschance hatten", berichtete bereits im April ein Krankenhausarzt gegenüber der Zeitung "Dagens Nyheter".

Von ähnlichen Vorfällen berichten später Angehörige in anderen Medien und im schwedischen Fernsehen: Immer wieder wurde demnach Morphium verabreicht und Sterbehilfe geleistet, anstatt den Erkrankten die bestmögliche Hilfe zukommen zu lassen - selbst dann ,wenn dies eigentlich möglich gewesen wäre. Weshalb genau dies geschah, bleibt unklar - doch es wird der Verdacht geäußert, dass eine Überbelegung der Intensivstationen quasi vorsorglich verhindert werden sollte.

Schwedens Chefepidemiologe signalisiert Sinneswandel

Offizielle Erkenntnisse gibt es dazu noch nicht. Und sicher sind solche Fälle kein Anlass dafür, Absicht zu unterstellen oder gar auf eine quasi wesensimmanente Kälte der Schweden gegenüber älteren Mitbürgern zu schließen, wie dies manch deutsches Medium nun suggeriert. Schließlich kommt es auch hierzulande immer wieder zu fatalen Pannen in der Alten- und Krankenpflege und sogar zu absichtlichen Tötungen.

Fredrik Sandberg/TT NEWS AGENCY/
Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell

Doch womöglich ist der Preis, den Schweden für seinen liberalen Kurs im Kampf gegen das Coronavirus zahlt, höher als es sich selbst eingestehen wollte. Die Regierung hat längst eingeräumt, dass im Bereich der Pflege- und Seniorenheime schwerwiegende Fehler unterlaufen sind.

Nun wird sich zeigen, ob man im Norden weiter uneingeschränkt an diesem Kurs festhalten möchte. Tatsächlich signalisierte Schwedens Chefepidemiologe Anders Tegnell zuletzt einen gewissen Sinneswandel: Erstmals zeigte er sich offen für Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen. "Heute befolgen alle europäischen Länder das schwedische Modell"

Aber auch dann würde Tegnell dies auf einzelne Stadtteile und wenige Wochen begrenzt wissen wollen. "Das Öffnen und Schließen wirkt sich überaus negativ auf das Vertrauen aus und hat deutlich mehr negative Effekte als Maßnahmen auf einem bestimmten Level zu halten", erklärte Tegnell seine Philosophie gegenüber dem "Guardian".

Es bleibt also dabei: Schweden vertraut in erster Linie - auf sich selbst. Und erntet damit nach wie vor Kritik, aber auch Interesse aus dem Ausland. "Heute befolgen alle europäischen Länder mehr oder weniger das schwedische Modell kombiniert mit den Abläufen von Test, Kontaktverfolgung und Isolation, die die Deutschen eingeführt haben", erklärte Antoine Flahault, Direktor des Institutes für Globale Gesundheit in Genf, gegenüber der "New York Times". "Aber keiner will das zugeben."


Quelle: focus.de vom 11.10.2020